Von Anke Herr

Begegnung in der Not

GK-Serie blickt mit Menschen zurück, die zu uns kamen und denen, die ihnen seither halfen

Selfie mit Helferin: Anke Herr und die von ihr mitbetreuten Flüchtlinge am alten Gästehaus.

Bad Gandersheim. Ich weiß noch ganz genau, dass im Oktober 2015 eine gute Bekannte mir von der Initiative erzählt hat und ich zu einem ersten Treffen am Dienstag mit in das Haus der Diakonissinnen gekommen bin. Mir hat die Idee sehr eingeleuchtet, dass hier Bewohner einer kleinen Stadt eine wirkliche Willkommenskultur aufzeigen, indem geflüchteten Menschen aktive Hilfe und Unterstützung angeboten wird.

Mir schwebte vor, eine Familie mit kleinen Kindern zu unterstützen. Ich kam Freitagvormittag ins Martin-Luther-Haus der evangelischen Kirche zu den Treffen, sprach länger mit den einigen anderen interessierten Hilfwilligen und lernte hier nette Gandersheimer kennen, die ich ohne die Initiative wahrscheinlich nie kennengelernt hätte.

Und wenn wir heute dafür kämpfen, dass ein Ort erhalten bleibt, der Migrationsberatung und Nachbarschaftstreff gleichermaßen unter einem Dach beherbergt, dann liegt die Grundlage genau hier: die Initiative hat nicht nur Hilfe für andere bedeutet, sondern auch ein neues Umgehen zwischen Menschen, die hier schon länger wohnen, die sich sonst nie getroffen hätten, aber in diesem gemeinsamen Interesse auch einen neuen Blick aufeinander bekommen haben!
Auch die Initiative der Familie S. für den Sprachunterricht und Elkes Pilz’  Aktivitäten zu praktischer Hilfe, ebenso wie Charlotte Graeves pragmatische Vorschläge für den Gang auf Ämter oder eine Arztbegleitung sind mir sehr genau in Erinnerung.

Wenige Tage vor Weihnachten habe ich in der Petristraße einige männliche Personen getroffen, es regnete, es war dunkel, ich war wachsam und hörte doch schnell, dass hier in englischer Sprache um Hilfe gebeten wurde: „Water in our house“. Sie waren in einer ehemaligen Pension untergebracht, einige von ihnen zu zweit in einem Zimmer – in typisch deutschen Doppelbetten, weil es ja so praktisch eingerichtet war. Der Landkreis hatte die Immobilie von Privatpersonen zu einem Festpreis angemietet.

Ich stand also an besagtem Abend im ehemaligen Gästehaus Bartsch und telefonierte mit Herrn Mroske, der noch am gleichen Abend kam und versuchte den Schaden zu beheben. Das war der Beginn meiner „Familie mit kleinen Kindern“. Nein, es waren neun Männer aus Syrien, die gerade eingezogen waren, die sich untereinander kaum kannten und echt Hilfe brauchten; denn es gab keine Heizung, kein warmes Wasser, aber einen Wasserrohrbruch.

Am nächsten Tag habe ich die Neun auf Bitten von Christina Mörth, Organisatorin und Beraterin in der Flüchtlingshilfe, als Erstes abgeholt und mit ins Martin-Luther-Haus genommen, damit sie nette Bad Gandersheimer kennenlernen und gute Alltags-Tipps bekommen sollten.

Noch vor Weihnachten standen verschiedene sehr laute Maschinen zum Trocknen der durch den Wasserrohrbruch durchfeuchteten Wände in dem Haus in der Petristraße. Ich habe mich immer wieder über die freundliche Ruhe der Männer gewundert. „Kein Problem“ war das Zauberwort!

Der Wasserschaden begleitete die Männer weiterhin in ihren Anfangsmonaten. Weitere Probleme ergaben sich mit der Herberge durch immer wieder ausfallende Heizung und fehlendes warmes Wasser. Wobei man sagen muss, dass Herr Mroske immer wieder vor Ort war, um den Mietern zu helfen. Die Vermieter waren nicht sehr hilfsbereit, was sehr ärgerlich war. Immer wieder bewundernswert war die freundliche Art der Männer, hinzunehmen, was der Tag so brachte. Zu dem Zeitpunkt waren sie im Alter zwischen 19 und 37 Jahren.

Die nächsten Probleme ergaben sich mit den unterschiedlichen Anerkennungen und dem unterschiedlichen Asyl-Status. Viele Telefonate mit der Ausländerbehörde waren zu führen. Die ersten Sprachkurse starteten. Über KVHS, eine Göttinger Firma und etwas später über die LEB. Freitags waren Treffen im Martin-Luther-Haus. Unvergessen bleibt für viele Flüchtlinge der Einsatz von Dr. Sultan dort im Café mit hilfreichen Übersetzen und freundlichen und ermutigenden Worten.
Einer der Männer hatte Verwandte in Kiel und konnte mit Unterstützung der hiesigen Migrationsberatung recht bald umziehen.

Die beiden Jüngsten der Syrer, Hasan und Hussein, konnten ab Sommer 2016 die BBS in Einbeck besuchen und trafen auf sehr engagierte Lehrer. Sehr schnell wollten sie das Haus verlassen und nach Einbeck ziehen, was dann auch ziemlich bald gelang.

Ein weiterer der Gruppe, Walid, hat eine Schwester in Nordrhein-Westfalen, aber es gab keine Möglichkeit für ihn, dorthin umzuziehen.

Mehrere Männer hatten ihre Familie zurückgelassen mit dem Versprechen, sie so bald wie möglich nach zu holen. Also begannen Fahrten nach Northeim ins Café Dialog, wo Beratung zur Familienzusammenführung stattfand. Später kam Kathrin Schünemann, eine kompetente Beraterin, auch hierher in die Diakonie. Sie und ein Kollege waren wirklich unendlich bemüht, aber die Männer gerieten teilweise an den Rand der Verzweiflung, als sie merkten, wie viele Hürden zu nehmen waren.

Ein Mann, der in Syrien unter anderem als Tierarzt und auch als Gabelstaplerfahrer gearbeitet hatte, also ein richtiger „Zupacker“ gewesen war, hatte seine Frau und fünf Kinder verlassen, als er in der Verzweiflung über den Bürgerkrieg auf die Flucht gegangen war. Er kannte in Bad Gandersheim und Umgebung schnell sehr viele Leute und versuchte, sofort Deutsch zu lernen und Arbeit zu finden, um den Nachzug der Familie zu ermöglichen. Er hatte die Idee, in einer Nacht- und Nebelaktion nach Berlin zu fahren und in die syrische Botschaft zu gehen, um nach Pässen für seine Familie zu fragen. Die Ausländerbehörde hat darauf heftig mit einer Anklage reagiert, dass dieses Betreten der Botschaft „Paktieren mit dem Feind“ gewesen wäre…. Es gab wieder viel Hin und Her an Telefonaten und Briefen und das Einschalten eines Rechtsanwaltes aus Hildesheim, um die Wogen zu glätten.
Er hat über eine Zeitarbeitsfirma unter anderem bei Auer in Bad Gandersheim gearbeitet. Seine Familie ist seit Sommer 2018 in Deutschland. Vor Kurzem hat er einen Vertrag bei der Firma Prahmann bekommen.

Jetzt, Ende Dezember 2019, ist der letzte der neun Männer ausgezogen. Die Flüchtlingsunterkunft im Gästehaus Bartsch ist Geschichte, aber in den vier Jahren haben wir einiges Aufregendes und Schönes zusammen erlebt. Mit vier von den geflüchteten Menschen und ihren nachgezogenen Familien bin ich noch immer in gutem, freundschaftlichem Kontakt.oh