Rezension von Tina Fibiger

Der Traum von Love and Peace

Das Musical „Hair“ auf der Dombühne

Drogenrausch, freie Liebe und die Auflehnung gegen die kleinbürgerlichen Moralvorschriften sind Kennzeichen der Flower-Power-Hippiezeit vor nunmehr einem guten halben Jahrhundert.

Bad Gandersheim. Auf das bunt gestaltete Peace Zeichen vor dem Portal der Stiftskirche haben sich auch die Musiker verständigt. Patrica Martin und ihre Band begrüßen das Premierenpublikum Zuschauer in Hippie Design, langhaarig verzottelt, mit reichlich Batik und schrillen Mustern, Blumenschmuck und ausgefransten Jeans. Da ist bereits ein erster vergnügter Sonderapplaus fällig. Besonders freuen sich natürlich die Zuschauer, die sich für diese musikalische ebenfalls optisch auf flower power eingestellt haben und sich gern an die Aufbruchstimmung von damals erinnern und an ein ganz neues Freiheitsgefühl.

Das Musical „Hair“, das 1968 seine Uraufführung erlebte, nähert sich ja inzwischen auch schon dem Rentenalter. Aber ebenso unverwüstlich wie die Hits, mit denen das Autorenduo Gerome Ragni und Jams Rado damals sein Publikum bestürmte sind die Geschichten von bewegten Zeiten, die sie abrufen.

Marc Bollmeyer hat sie für seine Inszenierung zu einem faszinierenden Panorama verwebt, in dem die alte Aufbruchstimmung musikalisch, choreografisch  und szenisch einfach nur beflügelt. Vielleicht sogar mit Blick auf die lang überfälligen Protestbewegungen, die jetzt gegen gesellschaftliche und andere Klimakatastrophen gebildet haben und wie der junge Claude (Daniel Eckert) einen Ausbruch wagen. Der strandet mit seinem Einberufungsbefehl vorübergehend in New York und begibt sich im Central Park in die Szene der vielen Ruhestörer gegen die etablierten Verhältnisse.

Da sind die Hippies, die sich nicht um Konventionen und Karrieren scheren oder irgendwelche kleinbürgerlichen Moralvorschriften. Unter den Ruhestörern sind Esoteriker wie Woof (Hermann Bedke) und wie Hud (Lemuel Pitts), der für die Rechte der Afroamerikaner kämpft. Sheila (Elena Otten) macht sich für Frauenpower stark und Jeannie gegen die Umweltzerstörung. Sie bilden mit Dionne (Rebecca Stahlhut), Crissy (Esther Conter) Steve (Stephan Luethy) und Shamila (Carina Shamila) eine widersprüchliche wilde Gemeinschaft, die ihr charismatischer Anführer Berger (Tim Müller) nicht einfach so zusammenhält.
Er ist in vielen Szenen auch der Unruhestifter und Provokateur, wenn gerade keine Joints kreisen und der LSD Rausch alle in träumerische Verzückung versetzt. Freie Liebe heißt ja auch freier Sex, selbst wenn das nicht immer auf Gegenliebe trifft. Aber die Devise „make love not war“ meint ebenso den Vietnamkrieg, das Verbrennen von Einberufungsbefehlen, den Aufruf zu Protestdemonstrationen, die mit Polizeigewalt in Schach gehalten werden. Rassistischen Gouverneuren muss wiederum der Krieg erklärt werden, auch diesen bigotten Tugendwächtern, die homosexuelle Lebensformen verteufeln, langhaarige Ruhestörer sowieso und natürlich auch Schwangerschaften ohne den Segen der Kirche.

Die verschiedenen Zeitstimmen, die in den einzelnen Szenen aufblitzen, bilden kein Handlungsgefüge im klassischen Sinn sondern ein Panoptikum gesellschaftlicher Unruheherde in bewegten Bildern, die Marc Bollmeyer auch gern ironisch einfärbt und zuspitzt. Zur Antirassismus-Demo halten sich die Schauspieler Affenmasken vor ihre Gesichter. Und bei der Ansage, „Unser Amerika soll schöner werden“ qualmen die riesigen Joints besonders schön. Herrlich schräg gestaltet sich auch das szenische Intermezzo mit der Kulturanthropologin Margaret Mead (Sven Olaf Denkinger) und ihrem Gefährten Hubert (Peter Neutzling), die sich für Berger und sein Bündnis begeistert, um dann als Operndiva zu posieren und als Drag Queen.

Enthusiastischen Beifall gibt es eben nicht nur für „The Age of Aquarius“ , „Good morning Starshine“ und all die anderen greatest Hits aus dem Musica „Hair“ sondern auch für dieser herrlich schrägen und hoch dramatisch gestalteten Opernkoloraturen. Stimmstarke Gänsehautmomente erleben die Zuschauer auch mit Tim Müller und vor allem mit Lemuel Pitts, dessen Bass selbst die mehrstimmigen Arrangements mit dieser kraftvoll dunklen Wärme überstrahlt.

Die Love and Peace-Ära zeigt sich auch von ihrer hässlichen Seite mit einem aggressiv aufbrausenden Berger, den Militärkommandos und wie die hoffnungsvolle flower power Stimmung in Granatsplittern verblutet. Dem berühmten Plakat mit der Darstellung von Uncle Sam und dem Aufruf „I want you for US. Army“ hat Claude sich am Ende doch nicht verweigern können, trotz der Hare Krishna-Jünger, die neben buddhistischen Mönchen und katholischen Schwestern jetzt auf der Bühne ausschwärmen.

Die mobilen Holzbänke, die immer wieder zu neuen Schauplätzen verschoben werden, bilden jetzt einen Sarg, an dem dieses hoffnungsvolle „Let the Sunshine“ die berührenden Tonfarben eines Klagegesangs bekommt. Doch die Aufbruchstimmung will einfach nicht verkümmern und so formiert sich das leidenschaftlich kämpferische Ensemble zum gemeinsamen Schlusschor mit einem begeisterten Publikum. Dann strahlt der Song wieder so leidenschaftlich enthusiastisch wie eine aufmunternde Vision „Let the sunshine in“.red