Die Museumsfreunde stellen vor: Die Nachbarschaften in Bad Gandersheim

Ursprünge der Gemeinschaften liegen weit zurück in der Stadtgeschichte / Und dennoch sind sie noch heute aktiv

Die Fahne der Moritzsträßer Nachbarschaft: Der Galgen am Kopf weist auf den früheren Namen „Galgenstraße“ hin. Rechts: Im Zentrum der Nachbarschaftsfahne von Steinweg und St. Georgstraße steht natürlich Ritter St. Georg.

Bad Gandersheim. Wer den Ostflügel des Stadtmuseums von Bad Gandersheim betritt und in Richtung Apothekenzimmer geht, trifft am Eingang zu diesem Zimmer auf eine seltsame aber besondere Fahne. Auf dem schönen Fahnentuch kann man lesen „Steinweger oder St. Georgs Nachbarschaft“. In der Mitte der Fahne prangt ein Bildnis des geharnischten Heiligen Georg, wie er mit seiner Lanze einen Drachen tötet. Die Fahne trägt Ort und Datum Gandersheim 25. April 1881. Sie ist somit fast 140 Jahre alt. Seitlich schmücken sie zwei Bänder. Dabei handelt es sich um Schmuckbänder, die zur 75. beziehungsweise 100-jährigen Wiederkehr der Fahnenweihe von 1881 von den Damen der Nachbarschaft gestiftet wurden. Rückwärtig ist das Fahnentuch schwarz-gelb in den Stadtfarben gehalten. Der Besucher des Museums fragt sich nun, was hat es auf sich mit den Nachbarschaften? Was überhaupt ist eine Nachbarschaft? Er wird so etwas wahrscheinlich aus seiner Stadt nicht kennen. Hier die Erklärung. Im frühen Mittelalter entstanden meist um Burgen oder um Bischofssitze oder Klöster erste Siedlungen. Bald kamen Kaufleute, Handwerker und Bauern dazu, um die Klöster oder Herrensitze zu versorgen oder Handel zu treiben. Es sind also die Ursprünge der späteren Städte. Eine Verwaltungsstruktur für diese Ansiedlungen, wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Die Siedler mussten das Meiste selbst organisieren. In Gandersheim war das Kanonissenstift der Liudolfinger die Keimzelle der späteren Stadt. Rund um das Stift befanden sich zunächst nur die Gebäude der Amtsträger und die dem Stift hörigen Ritter und Dienstmannen. In einem weiteren Umkreis siedelten danach Kaufleute, kleine Landwirte und Handwerker, die die Versorgung des Stiftes und seiner Bewohner übernahmen. Diese Siedler hatten oft kleine Gärten, etwas Landwirtschaft, ein wenig Vieh, Wald, eine gemeinsame Weide und Steinbrüche sowie Sandgruben zur Gewinnung von Baumaterial. Diese Liegenschaften verwalteten sie in Eigenverantwortung. Es waren also Zweckgemeinschaften. Die Bürger und Neusiedler wurden später nach und nach in die Stadtbefestigung einbezogen und erhielten zusätzliche Aufgaben. Die neuen Stadtbürger hatten nun neben ihren eigenen Besitztümern auch für Reinhaltung der Straßen, der Wasserläufe und Brunnen sowie auch für die Feuerwache, die Brandbekämpfung und mehr zu sorgen. So entstanden, wie auch in anderen Gegenden Deutschlands, die ersten Nachbarschaften in den verschiedenen Quartieren der Stadt. Das geschah vermutlich zwischen 1350 und 1400.

Ihre Namen erhielten die Nachbarschaften in Gandersheim nicht nach Stadtvierteln, sondern nach Straßen. Es sind dies die noch heute existierende Steinweger oder St. Georg Nachbarschaft, die Hagener Nachbarschaft, die Moritzsträßer oder Galgensträßer Nachbarschaft und die Neudorfer Nachbarschaft. Die Steinweger Nachbarschaft, von der die Fahne stammt, ist vermutlich die älteste der vier Nachbarschaften. Die Zugehörigkeit der Häuser der verschiedenen Nachbarschaften entspricht praktisch den vier Ausfallstraßen.

In dem Buch der Gandersheimer Geschichtswerkstatt „Die Nachbarschaften der Stadt Gandersheim“, das diese im Jahre 2001 herausgegeben hat, sind die Einzelheiten dieser Nachbarschaften erläutert. So gehören beispielsweise alle Häuser, die im Besitz des Stiftes oder des Stadtrates waren, nicht zur Nachbarschaft.

Nachbar konnte und kann nur sein oder werden, wenn er Hausbesitzer ist. Die zentrale Person in der Organisationsstruktur der Nachbarschaften, also der Vorsitzende, ist der Schaffer. Seine Verpflichtungen sind in den jeweiligen Satzungen genau festgelegt. Der Schaffer wird stets für eine gewisse Zeit von den zur Nachbarschaft gehörenden Hauseigentümern gewählt.

Er hat auf den Hauptversammlungen Rede und Antwort zu stehen. Im Zuge der stetigen weiteren Übertragung von zusätzlichen Verwaltungsaufgaben an städtische Behörden haben die ursprünglich von der Nachbarschaft übernommenen Verpflichtungen nach und nach abgenommen. Das gilt sowohl beispielsweise für die Brunnengemeinschaften als auch für die Brandbekämpfung und anderes mehr. Dennoch sind auch heute noch die Nachbarschaften lebendige Bürgergemeinschaften mit einem regen Austausch und großer Verantwortung für ihre Wohnbereiche. Leider bringt es der zunehmende Bevölkerungsaustausch mit sich, dass oft neue Hausbesitzer die alten Traditionen nicht mehr leben und kaum Interesse an der Nachbarschaft haben. Dies gilt besonders dann, wenn die neuen Hausbesitzer keine Beziehung zu ihren Nachbarn und den alten Traditionen aufbauen.

Das ist sehr schade. Neben der im Museum gezeigten und aufbewahrten Fahne der Steinweger Nachbarschaft besitzt auch die Moritzsträßer Nachbarschaft eine schöne Fahne. Zu dieser Gemeinschaft gehören auch die Häuser der Straße Alte Gasse. Diese Nachbarschaft besteht schon seit 1588 und ist nach dem Heiligen Moritz, lateinisch Mauritius, benannt. Der Heilige war der Legende nach ein römischer Soldat aus Afrika. Er ist auf der Fahne der Nachbarschaft abgebildet. Die Fahne ziert das Motto. „Was die Vorzeit schuf, die Jetztzeit nicht begrub“. Die Fahne ist in den Stadtfarben schwarz-gelb gehalten, trägt das Stadtwappen, darüber den Namen der Nachbarschaft und einen kleinen Galgen.

Dieser weist darauf hin, dass die Moritzstraße einst Galgenstraße hieß, weil sie zur früheren Hinrichtungsstätte, dem Galgen, führte. Mit der Fahne der Nachbarschaft hält das Stadtmuseum einen interessanten Teil der Gandersheimer Stadtgeschichte wach. Dass dieses auch so bleibt und auch künftig die Schätze des Museums den Bürgern der Stadt und ihren Gästen gezeigt werden können, ist einzig der uneigennützigen ehrenamtlichen Tätigkeit der Museumsfreunde zu verdanken. Ihnen gebührt Dank und große Anerkennung für ihr unermüdliches Tun. Mehr über das zur Zeit geschlossene Museum erfährt man im Internet unter www.museum-bad-gandersheim.de.red