„Wir wollen Frieden –weltweit!“

Bürgermeisterin Franziska Schwarz vor dem Ehrenmal: Gedenken an die Opfer der Kriege, von Hass und Gewalt

Bürgermeisterin Franzsika Schwarz: Nachdenkliche und mahnende Worte, doch die Zahl derer, die zur Feierstunde kommen, sinkt von Jahr zur Jahr.

Bad Gandersheim. Umrahmt vom Posaunenchor der Stiftskirchengemeinde fand gestern im eisigen Novemberwind die Volkstrauertag-Feierstunde am Ehrenmal statt. Nachstehend die Worte von Bürgermeisterin Franziska Schwarz: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,der November trägt im Volksmund den Beinamen „Totenmonat“. Nicht ohne Grund, denn in diesen grauen Wochen liegen die offiziellen Tage für Trauer und Tod: am Monatsanfang Allerheiligen und Allerseelen, die katholischen Gedenktage; am Monatsende der Totensonntag der Protestanten.

Darin eingebettet der Volkstrauertag, an dem wir uns an die Kriegstoten und die Opfer von Gewaltherrschaft erinnern, ein Feiertag, den ich persönlich als schwer und schwierig empfinde. Schwierig, weil 100 Jahre und sieben Tage nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und 73 Jahre und 77 Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Zeitzeugen immer weniger werden beziehungsweise ganz fehlen.

Da schweigen Stimmen, die aus erster Hand über die Gräuel und Grausamkeiten des Krieges berichten und aktiv und mit Leidenschaft dafür eingestanden sind, dass es in Deutschland und weltweit keine Alternative zu Frieden gibt, geben darf. Die Lebensberichte von Vater, Mutter oder den Großeltern als Wissensvermittlung aus persönlicher Erfahrung für junge Menschen sind verschwunden. Heutige Jugendliche erleben die Zeit nur noch in Form wissenschaftlich abstrakter Historikertexte aus Schulbüchern.

Wir müssen versuchen, auch Jugendliche und junge Erwachsene in das Gedenken mit hineinzunehmen. Ja, ihnen anschaulich begreifbar zu machen, dass es beim Volkstrauertag nicht um ein verstaubtes Ritual aus einer fernen Vergangenheit geht. Dass es um mehr geht als um eine langweilig gewordene Tradition. Wir erinnern uns heute an die unzähligen Toten der Kriege, von Gewalt und Terror und an die Opfer von Vertreibungen. Wir gedenken nicht nur jener Menschen, die unter den Deutschen während der Kriege und der NS-Zeit gelitten haben, sondern auch all jener, die bis heute unter bewaffneten Auseinandersetzungen, Terror und Folter leiden und an deren Folgen sterben. Dieses Gedenken ist eine menschliche Verpflichtung, nicht nur Erinnerung an die Vergangenheit.

Doch wie kann man – hier bei uns – vor dem namenlosen Schrecken des Krieges eindringlich warnen? Wie Vorstellungen über das Ausmaß des Leids wecken? Wie unzweifelhaft klar machen, dass Terror und Krieg allen darin Verwickelten grausamen Schaden zufügen? Die beiden Weltkriege auf europäischem Boden forderten eine unvorstellbare Zahl an Opfern. Ganz genaue Zahlen gibt es bis heute nicht, doch die Historiker sprechen von rund 80 Millionen Toten in mittelbarem und unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Das sind so viele Menschen, wie Deutschland heute Einwohner hat. Versuchen Sie sich vorzustellen: Sie durchreisen das heutige Deutschland von Ost nach West, von Süd nach Nord. Und Sie treffen niemanden. Keine Menschenseele.

Sie bewegen sich durch eine Toten- Republik. Ein zerstörtes Land ohne Menschen. Nein, das können und wollen wir uns nicht vorstellen. In Wirklichkeit dürfen wir hier seit nunmehr 73 Jahren im Frieden leben. Was für ein unschätzbares Geschenk! Das Wichtigste überhaupt ist uns damit gegeben! Doch zugleich wissen wir, dass wir in einer gemeinsamen Welt mit den Menschen leben, die auch heute den Krieg erleiden, Zerstörung, Gewalt. Wir können die Bilder, die uns von verhungernden Kindern aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Jemen erreichen, kaum ertragen. Zeitgleich mit Frieden und Wohlstand hierzulande gibt es dieses unvorstellbare Leid in vielen Teilen der Erde.

Wir dürfen uns damit nicht abfinden. Wir wollen Frieden – weltweit! In unser Gedenken an die Opfer der Weltkriege schließen wir deshalb unser Bekenntnis zu einer friedlichen Welt ein. Dieses Bekenntnis zum Frieden können wir auch ganz persönlich leben: Wenn wir den Hasspredigern eine Absage erteilen. Wenn wir uns wehren gegen die Abwertung anderer Menschen, die schon durch abfällige Bemerkungen im Gespräch oder im Internet ausgedrückt werden können. Wenn wir uns aktiv um gute Nachbarschaft bemühen, um ein gutes, konstruktives und verständnisvolles Miteinander in der Schule, im Betrieb, in der Politik.

„Nein“-Sagen zu Ausgrenzung, Hass und Gewalt – das können wir üben. Frieden fängt „im Kleinen“ an. Auch das Bekenntnis zu einem geeinten Europa gehört dazu. Im kommenden Jahr haben wir zur Europawahl die Chance, diesem bisher einmaligen großen und erfolgreichen Friedensprojekt „Europa“ unsere Stimme zu geben. Auch damit können wir ausdrücken: „Nie wieder Krieg!“ Für alle vom Krieg betroffenen Familien weltweit gilt: Die unendliche Trauer und der tiefe Verlustschmerz sind universell. Unerheblich, ob es um Franzosen, Russen, Engländer oder Deutsche geht. Unerheblich, ob es um Syrer, Afghanen, Iraker oder Nigerianer geht. Unerheblich, ob es um Ukrainer, Rohingya, Kurden oder Sudanesen geht. Unerheblich, zu welchem Zeitpunkt – vom Ersten Weltkrieg bis heute.

Die Vergangenheit wiederholt sich nicht. Was sich aber wiederholt, sind menschliche Verhaltensweisen – im Guten wie im Bösen. Individuelles Leid, individuelle Schuld, persönliche Schicksale – seien sie auch Teil der Vergangenheit – berühren auch junge Menschen. Und zwar gleichgültig, welcher Ethnie, Nation oder Religion sie angehören. Das belegen auch die vielen Begegnungen, die der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge mit Schülern und Jugendlichen aus deutschen, französischen, polnischen, aus türkischen oder algerischen Familien organisiert. Hier treten junge Menschen in eine Verantwortungsgemeinschaft ein.

Sie finden sich zusammen in einem gemeinsamen Wollen: für Versöhnung und Frieden. Und darauf setze ich alle Hoffnung: dass die Erinnerung an das Leid des Krieges nicht in Rache und Selbstsucht mündet, sondern immer mehr Menschen und Nationen den Ausweg in einem friedlichen Zusammenleben der Völker suchen lässt. So wie es gelang, die europäische Einigung zum großen Friedensprojekt unseres Kontinents zu machen. Lassen Sie uns hoffen, dass die Würde und Unversehrtheit jedes einzelnen Menschen unser Denken und Handeln prägen mögen und nicht der Kult des Terrors, nicht die Ideologie einer unfehlbaren Weltanschauung oder Religion oder einer siegreichen und heldenhaften Nation. Albert Schweitzer sagte: „Die Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens.“ Ich wünsche uns, dass weltweit die Menschen in Regierungsverantwortung die stummen Prediger wahrnehmen. Denn dann wird, das haben wir Deutsche selbst mit Frankreich und Polen erleben dürfen, Versöhnung über den Gräbern möglich. Dann kann Frieden beständig sein. In diesem Sinne spreche ich in unser aller Namen das Totengedenken: „Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren. Wir gedenken auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind. Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz. Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.“red