Apotheken-Notdienstkreis Bockenem-Seesen wird am 30. Juni aufgelöst

Wer Medikamente am Wochenende braucht, muss ab 1. Juli deutlich weitere Fahrwege in Kauf nehmen

Seesen/Bockenem. Das Kind hat Fieber oder kurzfristig wird ein Medikament benötigt. Unter der Woche kein Problem, anders sieht das am Wochenende und an den Feiertagen aus. Dann greift der Apothekennotdienst. Bisher existierte dafür der Apotheken-Notdienstkreis Bockenem-Seesen, doch in fünf Tagen wird dieser aufgelöst. Ab 1. Juli greift die Neuerung. Heißt, die drei Bockenemer Apotheken schließen sich dem Hildesheimer Notdienstkreis an, die fünf Seesener Apotheken dem Notdienstkreis von Langelsheim, Lutter, Goslar und Bad Harzburg. Auf die betroffenen Seesener und Bockenemer kommen im Notfall, je nachdem, welche Apotheke Notdienst hat, deutlich längere Fahrtwege zu.

Der Apotheken-Notdienst ist gesetzlich geregelt, für die Planung ist hier die Apothekerkammer Niedersachsen zuständig. Nach Anhörung der beteiligten Apothekenleiter ordnet die Apothekerkammer für eine Gemeinde oder für benachbarte Gemeinden einen Dienstbereitschaftsturnus an. Auf dieser Grundlage werden Dienstpläne aufgestellt, die jeweils für ein Jahr gelten. Wenn Apotheken schließen, wird der Notdienstplan sofort angepasst. Wie Panagiota Fyssa, Pressesprecherin der Apothekerkammer Niedersachsen, auf Anfrage erläutert, ist ein Grund für die Veränderung die Schließung der Rhüdener Glückauf-Apotheke am 30. Juni 2020. Die Kammer prüft Vorschläge auf Neuordnung einer Dienstregelung im Blick darauf, ob den Patienten außerhalb der regulären Ladenöffnungszeiten in zumutbarer Entfernung Apotheken zur Verfügung stehen. Der Gesetzgeber sieht vor, dass die Apotheken einer Gemeinde oder auch benachbarten Gemeinden einen Dienstkreis bilden können. Dabei wird auf die Straßenkilometer geachtet, die Patienten bis zu der nächsten dienstbereiten Apotheke fahren müssen. Innerstädtisch gelten laut der Pressesprecherin bis zu zehn Kilometer als zumutbar, in ländlichen Gebieten 15 bis 20 Kilometer. Die Apothekerkammer trägt Sorge dafür, dass die zumutbaren Strecken nicht überschritten werden.

Bis zum 31. Dezember 2020 haben laut der Sprecherin der Apothekenkammer Niedersachsen acht Apotheken im Dienstbereitschaftskreis Bockenem-Seesen ein festgelegtes Gebiet alleine versorgt. Dabei wurden von den Apotheken im Wechselturnus bis zu 45 Notdienste verrichtet. „Auf Wunsch der Apotheker wurde der Dienstbereitschaftskreis von der Apothekerkammer Niedersachsen geprüft und neu geregelt, um die Belastung der Apotheken moderater zu gestalten“, teilt Panagiota Fyssa dazu mit.

„Das Apothekensterben in Deutschland macht auch in unserer Region nicht halt, und der Arzneimittel-Versandhandel wächst stetig. Deshalb hat die Apothekerkammer Niedersachsen eine zukunftsweisende Entscheidung getroffen“, so die scheidene hiesige Notdienstkreis-Beauftragte des Altkreises Bockenem-Seesen, Anke Möller-Zerrenthin, Inhaberin der Ambergau-Apotheke in Bockenem.

Durch die Geschäftsaufgabe der „Glückauf-Apotheke“ verlor Rhüden laut Ortsbürgermeister Frank Hencken nach 175 Jahren seine einzige Apotheke im Ort. „Die Schließungsgründe sind durchaus nachvollziehbare, aber dennoch, für den Ort sehr bedauerlich“, so der Ortsbürgermeister. Dabei hat er auch im Blick, dass die Veränderung des Apotheken-Notdienstes einen weiteren Rückschritt in der medizinischen Versorgung im ländlichen Bereich bedeutet. Im Extremfall, müssten die Rhüdener bis nach Oker fahren, dabei kommen über 30 Kilometer für eine Strecke zusammen. Einziger Lichtblick: Die Fahrt bis nach Bad Harzburg entfällt im Notfall, denn eine Seesener Apotheke hat immer Paralleldienst. Zumindest da müssen die Eltern für Hustensaft unter dem Strich nicht 86 Kilometer Fahrtweg von Seesen bis nach Bad Harzburg in Kauf nehmen.

Für Andrea Melone, Vorsitzende der SPD-Stadtratsfraktion, gehören Apotheken hier im ländlichen Raum zur Daseinsversorgung. Sie übernehmen eine wichtige Aufgabe., gerade an Sonn- und Feiertagen und im Nachtdienst werden sie hier genauso gebraucht wie in großen Städten. „Wer erkrankt ist, kein Auto fahren kann, erkrankte Kinder oder andere Familienangehörige betreut, muss auch in der Lage sein, sich mit Medikamenten versorgen zu können. Unabhängig ob ich auf dem Land oder in der Stadt lebe“, unterstreicht Andrea Melone.

Auch Rudolf Götz, Fraktionschef der CDU-/FDP-Gruppe im Seesener-Stadtrat, hat vor eine Weile schon von der geplanten Veränderung gehört. „Es ist keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung“, konstatiert er. Seesens stellvertretende Bürgermeisterin, Christiane Raczek (CDU), findet es sehr bedauerlich, „dass die Fahrwege durch diese Veränderungen teilweise immer größer werden. Besonders für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die in der Mobilität eingeschränkt sind und keine Unterstützung haben, stellt diese Situation eine Verschlechterung dar“, unterstreicht sie. Ein klein wenig Hoffnung macht Christine Raczek, dass es unter anderem über die Internetseite der Apothekerkammer Niedersachsen Möglichkeiten gibt, im Bedarfsfall eine wohnortnahe Apotheke zu finden.

Die SPD-Landtagsabgeordnete Petra Emmerich-Kopatsch, die für Seesen zuständig ist, bedauert auf Anfrage des „Beobachter“, dass die geografischen Gegebenheiten der Region um Seesen mitunter bei solchen Entscheidungen nicht berücksichtigt beziehungsweise offenbar falsch eingeschätzt werden. „Entgegen ihrer eigenen Maßgabe, beträgt die Entfernung zum Beispiel von Münchehof bis Goslar-Oker über 40 Kilometer und keinesfalls die vorgegebenen zehn bis 20 Kilometer“, unterstreicht sie. Sie will die Sache weiter im Blick behalten, vor allem wenn die Neuerung dann ab dem 1. Juli gilt.syg