Bei Fluchtversuch von vier Kugeln aus Maschinengewehr getroffen

Ralf Wolfensteller berichtet vor 11. Jahrgang des JGS von Erfahrungen unter kommunistischer Diktatur

Während er auf der Aula-Bühne seine Runden drehte...

Seesen. Am Ende der eineinhalb Stunden musste Ralf Wolfensteller eine beachtliche Strecke zurückgelegt haben. Nahezu ohne Unterbrechung schritt er von dem einen Ende der Bühne zum anderen und wieder zurück. Dabei berichtete er als Zeitzeuge in der Aula des Seesener Schulzentrums dem 11. Jahrgang des Jacobson-Gymnasiums von seinen Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland. Die Veranstaltung wurde vom Koordinierenden Zeitzeugenbüro vermittelt und von der Geschichtslehrerin Silke Lenk organisiert.

Ralf Wolfensteller wurde 1946 in Leipzig geboren und träumte schon als Jugendlicher von einem Leben im Westen. Vor allem die Eindrücke seiner Ausflüge in die Kinos und Warenwelt Westberlins waren prägend für ihn. Auch die heimlich gehörten Sendungen des Westrundfunks förderten die Neugier auf das Leben außerhalb der DDR. Als Zwölfjähriger hatte er einen konkreten Fluchtplan, der wenige Tage vor dessen Umsetzung durch den Bau der Mauer scheiterte. Er galt in der Schule als ein unbequemer Schüler, der aufgrund seiner „politischen Unzuverlässigkeit“ kein Abitur ablegen durfte, und als Berufsschüler seine Lehrer mit ihren „eigene Waffen“ in Form von Marx- und Engelszitaten provozierte. Bei diesen Schilderungen seiner Kindheits- und Jugendjahre gelang es Wolfensteller zu zeigen, dass trotz der ganz anderen Umstände er ähnliche Sorgen und Wünsche hatte wie die heutigen Jugendlichen.

Sieben Jahre nach seinem ersten Fluchtplan nutzte er seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen der Nationalen Volksarmee, um sich einen neuen Fluchtplan zurechtzulegen. Diesen setzte er im September 1967 in die Tat um. Obwohl er sich bereits auf dem Territorium der BRD befand, wurde er dabei dennoch von vier Kugeln aus dem Maschinengewehr seines Kompaniechefs getroffen und schwer verletzt. Besonders bewegt wirkte Wolfensteller, als er über die Ärzte redete, die im Blankenburger Krankenhaus seine Schussverletzungen versorgten. Diese setzten ihre eigenen Karrieren aufs Spiel, als sie die Stasileute des Behandlungszimmers verwiesen und eine Nachricht von Wolfensteller an seine Eltern weiterleiteten. Wegen „Terror“ und „Fahnenflucht“ wurde er schließlich zu fünfeinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Davon musste er vier Jahre zum Teil bei Einzelarrest und Lichtentzug absitzen. Im Oktober 1971 kaufte ihn die Bundesrepublik frei und er wurde in Hannover heimisch.

Wenn auch seine Vortragsweise einem Spaziergang glich, war den Schülern in den eineinhalb Stunden deutlich geworden, dass insbesondere die Jahre nach dem Fluchtversuch einen sehr mühsamen und qualvollen Weg in die Freiheit darstellten. Dennoch stand vor ihnen ein Mann, der seine positive Lebenseinstellung nie verloren hatte.

Für Wolfensteller selbst sind diese Zeitzeugengespräche eine Art Therapie seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Denn auch wenn viele Jahre seit seinem Fluchtversuch und der anschließenden Haft vergangen sind, träumt er immer wieder von dem Mündungsfeuer des Gewehrs seines Kompaniechefs.

Für die Schüler stellte diese Form des Geschichtsunterrichts einen unbezahlbaren Mehrwert zum normalen Schulunterricht dar. Wolfensteller beendete seinen Vortrag mit dem Appell an die Schüler, nicht alles einfach hinzunehmen, sondern zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden.kür