Bis zu 1.500 Kilometer am Tag mit dem Zug auf Erkundungstour

Drei Monate testete Günter Voß das deutsche Bahnnetz / Ergebnisse hat er ausgewertet

So fing alles am 16. Juli 2018 an: Der „Beobachter“ traf Günter Voß an diesem Tag um 9.15 Uhr am Seesener Bahnhof, zum Start seines Bahntests. Der Zug nach Braunschweig hatte zwei Minuten Verspätung, auch das hatte er in seinem Notizbuch vermerkt.

Seesen. Bereits die erste Fahrt von Seesen nach Braunschweig begann mit einer Verspätung von zwei Minuten. Akribisch hat der Seesener Günter Voß auch das notiert. Am Ende summiert sich die Gesamtverspätung auf über 1.000 Minuten. Ein Großteil dieser rund 17 Stunden verbrachte der Seesener mit Warten am Bahnsteig oder im verspäteten Zug.

Allein 91 Fahrten absolvierte er im  ICE, diese Züge waren insgesamt 901 Minuten zu spät. Besonders anfällig für Störungen ist der ICE 4, werden die untersten Trittstufen nicht zügig aus- und eingefahren, summieren sich die Minuten. Verzögerungen folgen. „Dies habe ich mehrfach erlebt“, betont Günter Voß. Das ist nur ein Ergebnis seines dreimonatigen Tests des deutschen Eisenbahnnetzes. Der mittlerweile 80-jährige Seesener hat  einiges festgestellt.

Andere treiben Sport, züchten Kaninchen oder sammeln Briefmarken, nicht so Günter Voß, er liebt das Reisen mit dem Zug und testet die Bahn. Unabhängig. Weder das Unternehmen noch irgendein Fahrgastverband hatten ihn beauftragt, den Test hat er sich quasi als Vorgeschenk zum runden Geburtstag selbst gemacht, ermöglicht durch die Probebahncard 100 für 1.275 Euro. Genau diese Flatrate für  Vielfahrer ermöglichte ihm von Juli bis Oktober bundesweit auf Erkundungstour zu gehen.

Zwei Ziele bereits im Vorfeld festgelegt

Alle Fahrten begannen in Seesen. Zwei besondere Ziele hatte sich der 80-Jährige im Vorfeld gesteckt: Erstens das komplette Bundesgebiet mit dem Zug zu befahren und zweitens die wichtigsten Bahnhöfe im Bereich der Grenzen zu den Nachbarländern zu erreichen, und zwar beginnend unter anderem mit Dresden, Konstanz am Bodensee, Basel mit Fahrt durch den „Großglockner-Tunnel“ nach  Lugano, Karlsruhe und Emmerich sowie die wichtigsten Städte an Nord- und Ostsee, wie Flensburg und Puttgarden mit der Fähre nach Roedby. Rückkehr, außer von Lugano aus,  noch am selben Tag in seine Heimatstadt.

Damit das möglich ist, startet er in  Seesen, aber auch in Kreiensen oder Göttingen – bereits morgens ab 6 Uhr. Am Testtag war er bis zu 1.500 Kilometer und zwischen zwölf und 16 Stunden unterwegs, teilweise sogar noch länger. Danach ruhte er sich bis zu drei Tage aus. „Dies ist meinem hohen Alter geschuldet“,  sagt Günter Voß und lächelte. Gereist war er mit leichtem Gepäck, immer mit dabei waren  seine handliche, schwarze Umhängetasche, als Proviant eine 1-Liter-Flasche Wasser und zwei Bananen. Dazu sein Lederkäppi mit goldenem ICE-Anstecker, Armbanduhr, ein Notizbuch, das Handy und  Portemonnaie.

Zug gilt erst ab sechs Minuten Verspätung als unpünktlich

Sauberkeit und Pünktlichkeit sind ihm wichtig. Letzteres hat, wie erwähnt, ja nicht so optimal funktioniert. Aber eine Sache bringt ihn auf die Palme: Laut Bahn liegt bei der Ankunft eines Zuges um fünf Minuten und 59 Sekunden nach Plan keine Verspätung vor –  also gilt eine Verspätung erst ab sechs Minuten. „Was für ein Nonsens“, betont Günter Voß und verdeutlicht das an einem Beispiel:  Wie will ein Reisender aus dem hinteren Zugbereich, beispielsweise eines ICE von 400-Meter- Länge, seinen Anschlusszug im Frankfurter Hauptbahnhof erreichen? Zumal oft nur wenige Minuten zum Umsteigen bleiben.

Um ICE-Ausfälle oder wesentliche Verspätungen zu kompensieren, musste der Seesener auf Züge des Nah- beziehungsweise des Mittelstreckenverkehrs zurückgreifen – und das bundesweit. Sein Fazit hier: Das Reisen mit dem Regionalexpress war komfortabel, pünktlich und zuverlässig. Getestet hat er hier beispielsweise die Verbindung zwischen Uelzen und Göttingen, von Hamm nach Paderborn oder von Braunschweig nach Bielefeld. Es wurden verschiedene neue Einheiten eingesetzt mit respektabler Kilometerleistung und Fahrgeschwindigkeit.

Oft klagen Reisende über überfüllte Züge. Das konnte auch der Seesener auf einigen Teilstrecken feststellen. Zwar ist der ICE 3 sehr zuverlässig und leistungsfähig im Hochgeschwindigkeitsbereich unter anderem zwischen Berlin und München oder Frankfurt und Köln, jedoch mit einem faden Beigeschmack: „Leider kam es oft zu Überfüllungen, weil nur Teilzüge eingesetzt wurden“, konstatiert Voß.

Komfortabel ist laut dem Seesener das Reisen in den Intercity-Doppelstock-Zügen, jedoch müssen die Zugfahrer hier Geduld mitbringen,  20 ICs seien auf insgesamt 113 Verspätungsminuten gekommen, keiner war pünktlich.  Einen Verbesserungsvorschlag hätte er, nämlich die Aufstockung der Doppelstockwagen, somit könnte der ICE-Verkehr entlastet werden.

Bahntester empfiehlt deutlich mehr Umsteigezeit

Kein Bahntest, der für ihn seit 1985 Passion ist, ohne Verbesserungsvorschläge: Mehr Umsteigezeit, besonders in den sechs bundesdeutschen Drehkreuzbahnhöfen Hamburg-Altona, Dresden, Leipzig, Frankfurt am Main, München und Stuttgart, um den Anschlusszug sicher erreichen zu können. Auf den neuen Schnellfahrtstrecken liegt die Höchstgeschwindigkeit bei 300 km/h, erreicht wird das nur selten. Günter Voß hat auf ausgewählten Strecken nur eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 200 km/h notiert. Sein Vorschlag: Für den ICE 3 reichen  250 km/h als Höchstgeschwindigkeit, das verringert obendrein den Verschleiß bei allen Zugkomponenten, den Weichen und Schienen.

Jetzt ist aber Schluss mit Bahntest, aber den Nahverkehr rund um Seesen behält Günter Voß weiterhin im Blick. Jedoch sei träumen erlaubt, eine Fahrt auf den neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken in China, das würde ihn reizen.syg