Die heutige Verantwortung mehrfach ins Gedächtnis gerufen

Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 / Vier Redner wiesen auf eine Sache immer wieder hin

Bevor (von links) Pröpstin Meike Bräuer-Ehgart, SPD-Ortsvereins-Chef Patrick Kriener, Stefan Bungert (Schulleiter des Jacobson-Gymnasiums und Vorsitzender der Jacobson-Stiftung) und Bürgermeister Erik Homann ihre Rede hielten, legten sie jeweils einen Kranz am Denkmal auf dem Jacobson-Platz nieder.

Seesen. Mittlerweile sind die Geschehnisse in der Nacht vom 9. auf dem 10. November 83 Jahre her. Doch unvergessen sind die Ereignisse an jenem Novembertag im Jahr 1938 in Seesen. Daran wurde traditionell auf den Tag genau in der Sehusastadt auf dem Jacobson-Platz erinnert. Neben einer Kranzniederlegung mit eindringlichen und mahnenden Worten. Letztere oblagen Bürgermeister Erik Homann, dem SPD-Ortsvereins-Vorsitzenden Patrick Kriener, Pröpstin Meike Bräuer-Ehgart und Stefan Bungert, Schulleiter des Jacobson-Gymnasiums und Vorsitzender der Jacobson-Stiftung. Eine Sache spiegelte sich unter dem Strich in allen Reden wider. Sie riefen die Verantwortung der heutigen Gesellschaft ins Gedächtnis.

Zur Erinnerung: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in ganz Deutschland Synagogen und Bethäuser. Jüdische Geschäfte und Einrichtungen wurden geschändet und zerstört. Eine dieser Synagogen, der Jacobstempel, stand hier auf diesem Platz. Er hat als weltweit erster Synagogenbau des Reformjudentums eine ganz besondere Bedeutung. Dieses weltgeschichtlich bedeutende Gebäude wurde in Brand gesteckt und der Synagogenwächter Siegfried Nußbaum wurde in dieser Nacht erst vom Mob beinah in die Flammen gestoßen und anschließend im Rahmen der Verhaftung mit dem Vorwand eines Fluchtversuches hinterrücks erschossen. Die Seesener Bürger schauten diesem Treiben, wie auch der Plünderung und Brandstiftung des Warenhauses Bloch & Bremer in der Poststraße, tatenlos zu. Einige vermutlich mit einem Gefühl der Schadenfreude andere vielleicht gleichgültig oder auch missbilligend. Tatsache ist jedenfalls, dass niemand, egal ob hier in Seesen oder anderswo in Deutschland diese unglaubliche Ungerechtigkeit und Grausamkeit verhindert hat. Für die schweigende Mehrheit ging danach das Leben ganz normal weiter. Für die Juden war es eine Zäsur.

Nachdem Bürgermeister Erik Homann diese Ereignisse noch einmal schilderte, sagte er weiter: „Ich habe vor kurzem einen Satz zur Reichspogromnacht gelesen, der sich mir eingeprägt hat, weil er meines Erachtens den Sinn der heutigen Gedenkveranstaltung so treffend zusammenfasst. Er lautet: „Wir sind nicht verantwortlich für das, was damals geschehen ist, aber wir sind verantwortlich dafür, dass es nie wieder geschieht“, betonte Erik Homann.

Ein Punkt, den auch die anderen Redner aufgriffen, indem sie ein Stück weit Geschehnisse vergegenwärtigten. „Wer heute der Opfer des Nazi-Terrors gedenkt, hat die Pflicht, sich auch dem aktuellen Antisemitismus entgegenzustellen, welcher sich zunehmend offen und schamlos zeigt. Mahnen und Gedenken bleiben ein unverbindliches Ritual, wenn sie nicht zum Widerstand gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus führen- nicht irgendwie, irgendwo und irgendwann, sondern hier und jetzt“, betonte eindringlich Patrick Kriener, Vorsitzender des SPD-Ortsvereins, in seiner Rede.

Stefan Bungert erinnerte daran, dass auch 83 Jahre danach noch immer Einzelschicksale ans Licht kommen. Hin und wieder stellen sie sogar eine Verbindng zu Seesen dar. So beispielsweise bei Johannes Rabener. 1938 bot er einem Verlag zwei umfangeiche Romane an, später verboten die Nationalsozialisten seine Werke. Doch es kam mitlerweile ans Licht, dass er von 1920 bis 1925 in Seesen als Jaques Rabinowitz die hiesige Schule besuchte. 1935 emigrierte er nach Belgien und wurde 1942 ins Konzentrationslager nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Hier verliert sich seine Spur. Für die Seesener Historie des Jacobson-Gynmasiums bedeutet die, sein Name muss in der Liste ehemaliger Schüler ergänzt werden. „Indem wir den Ermordeten ihre Namen zurückgebenm geben wir ihnen ihre Würde als Menschen, die mit uns geweint und gelact und unter uns gelebt haben, zurück“, betonte Stefan Bungert. Und er fügte die mahnenden Worte an: „Wer sich nicht seiner Geschichte erinnert, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“ Zugleich unterstrich der Schulleiter, „dass es den Nationalsozilisten nicht gelungen ist, die Jacobsonsche Idee des friedlichen Zusammenlebens und -arbeitens von Schülern unterschiedlicher Religion und Herkunft zu vernichten.“ Das muss auch so blieben, deshalb ist es wichtig, Diskrimierung und Rassismus nciht zu tolerieren.

Besorgt ist auch Meike Bräuer-Ehgart, die neue Pröpstin der Propstein Gandersheim Seesen. Vor allem angesichts der jüngsten Wahlen mit dem Ergebnissen der AfD in vielen Döfern und dem Tummeln der Reichsbürger in der Region. Sie berichtete davon, dass sie von Letzteren noch vor der Amtsübernahme Post bekam, dass die Kirche widerrechtlich erhaltenen Grund und Boden endlich dem germanischen Volke, dem es zustehe, zurück geben soll. Sie appelliere daran, sich nicht durch Schweigen zum Mitäter zu machen, sondern laut und entschieden Nein sagen. Nicht immer wegschauen oder sich umsehen nach dem Motto: Wer hat Schuld?

Übrigens ein Punkt, den auch Bürgermeister Erik Homann ins einer Rede abschließend aufgriff. „Wir sind sozusagen die Brandmauern, die ein Übergreifen auf weitere Menschen verhindern können. Wir müssen immer aufmerksam bleiben. Auch wenn Menschen aus einem anderen Kulturkreis mit diesen Verschwörungstheorien aufgewachsen sind, dürfen wir nicht aus falsch verstandener Toleranz und der Angst fremdenfeindlich zu wirken, diese Gedanken unwidersprochen stehen lassen.Wir tragen nicht die Verantwortung für die Novemberpogrome von 1938. Aber wir tragen die Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht“, unterstrich der Bürgermeister.syg