„Für alle merkwürdigen Begebenheiten stets ein waches Auge“

Serie „55 Jahre Museum im Jagdschloss“: Über die Anfänge der Seesener Lokalzeitung „Beobachter“

Ein besonderes Fundstück: Redaktionsleiter Ulrich Kiehne, Verlagsmitarbeiter Antonio Mateo, Museumsleiter Dirk Stroschein und Verlagsleiter Bernd Voß mit einem Zeitungs-Exemplar vom 16. August 1877. Es ist die bislang bekannteste älteste Ausgabe, die noch erhalten ist.

Seesen. Die Seesener Tageszeitung „Beobachter“ existiert bereits seit über 140 Jahren. In den Archiven allerdings fehlen bislang die Ausgaben der ersten Jahre. Im Verlagsarchiv an der Lautenthalerstraße datieren die ältesten Originalausgaben aus den frühen 1890er-Jahren. Im Stadtarchiv beginnt die Sammlung erst mit dem Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg, im Oktober 1949. Mit einer Ausnahme: Im Vorfeld des Jubiläums „55 Jahre Museum im Jagdschloss“ tauchte dort das bisher älteste, erhaltene Originalexemplar der Lokalzeitung auf und ist nun in der Sonderausstellung zu sehen.

Es handelt sich um die Ausgabe vom 16. August 1877, einem Donnerstag. Die Zeitung erschien damals noch lediglich dreimal in der Woche – jeweils Dienstag, Donnerstag und Sonnabend – und kostete vierteljährlich 1 Mark 50 Pfennige „bei allen Kaiserlichen Postämtern und unseren Boten“. So ist es auf dem Titelkopf zu lesen. Eine Anzeige – „Die kleine Zeile oder deren Raum“ – kostete damals 10 Pfennig. Vier Druckseiten stark ist diese Ausgabe, wobei die Rückseite den Annoncen vorbehalten ist. Man liest hier beispielsweise die Ankündigung des Turnvereins zu Seesen für ein großes Schauturnen mit vorherigem Festzug und abendlichem Ball. Und der „Consumverein Selbsthülfe“ lädt zu seiner Generalversammlung im Rathaus ein, während ein J. Billmann „ganz frische, russische Sardinen sowie Anchovis und Sardellen“ inseriert.

In der Rubrik „Zur Tagesgeschichte“ auf der Frontseite wird Weltgeschichtliches vermeldet, wie zum Beispiel: „Kaiser Wilhelm ist in Schloss Babelsberg glücklich von seiner Gasteiner Badereise eingetroffen.“
Unter „Lokales und Heimathliches“ wird im Innenteil in dieser Ausgabe aber das für die Seesener wirklich Interessante berichtet: „In der Nacht vom Montag zum Dienstag entluden sich über unserer Gegend mehrere Gewitter von ungewöhnlicher Heftigkeit, welche sich nach den vorliegenden Berichten weithin erstreckt und an verschiedenen Stellen schweren Schaden angerichtet haben.“ Ja, die Royals und das Wetter! Diese Themen funktionieren auch heute noch…

Das Zeitungsexemplar trägt die Nummer 98. Bei drei Ausgaben in der Woche kann man somit das Erscheinen des ersten „Beobachter“-Exemplars etwa auf das Ende des Vorjahres, 1876, datieren. Das passt auch zu den wenigen in den Unterlagen des Staatsarchivs Wolfenbüttel vorhandenen Angaben zum Gründungsverleger Julius Becker: Dieser wurde im Jahr 1842 in Berlin geboren und war gelernter Kaufmann. In den 1860er-Jahren hatte er viele Reisen in Deutschland, Österreich und Belgien unternommen, bevor er sich 1876 als Buchdruckereibesitzer in Seesen niederließ. Die Wahl war wohl auf Seesen gefallen, da seine Mutter, eine geborene Saatmann, von hier stammte. Im Dezember dieses Jahres veröffentlichte Becker anlässlich der Zeitungs-Neugründung einen Artikel unter der Überschrift „Unser Programm“. Darin heißt es: „Einer landläufigen aber sehr abgenutzten Redewendung begegnet man sehr oft, wenn ein neues Unternehmen sich einführen und die Nothwendigkeit seiner Existenz begründen will, sie lautet: Um einem längstgefühlten Bedürfnis abzuhelfen etc. Mit diesen Worten traten wir nicht vor unsere Leser hin. Sie haben in nächster Reihe der Tageblätter gar viele; wir bezweifeln daher, ein reges Bedürfnis nach einem neuen Blatte
überhaupt voraussetzen zu können.“

Ein geschickt gewählter Einstieg; Becker hat die Aufmerksamkeit der Leser, nimmt den daraus folgenden kritischen Einwand vorweg, um anschließend seine Programmatik näher auszuführen: „Was wir also wollen? So hören wir fragen, und darauf geben wir folgende offene und ehrliche Antwort: Wir halten es für eine Hauptpflicht der Presse, und namentlich der Lokalblätter, in leichtfaßlicher, für Jedermann verständlicher Schreibweise zur Verbreitung von nützlichen Kenntnissen, zur Hinwegräumung von Unwahrheiten und Aberglauben beizutragen, belehrend und unterhaltsam zugleich zu sein, die gewaltigen Errungenschaften unserer Tage in entsprechender Weise dem Volke zu bieten, und damit dem hohen Zwecke der allgemeinen Bildung unserer Nation zu dienen.

Wir werden somit bestrebt sein, für alle merkwürdigen Begebenheiten stets ein waches Auge zu haben, und dann dasjenige unserem geschätzten Leserkreise bieten, was in den Rahmen einer anständigen Zeitung passt.“
Becker umschreibt hier eigentlich die Begriffe „Bildung“ und „Aufklärung“, und er verpflichtet die Redaktion der Tugend der „Aufmerksamkeit“: Ein „waches Auge“ steht über allem als zentrale Arbeitsanleitung. Rührt daher auch der in diese Programmatik passende, gewählte Zeitungsname „Beobachter“?

Weiter führt Becker aus: „Indem wir dies Programm verfolgen, hoffen wir das Bedürfnis nach solchem Stoffe in vielen Schichten zu wecken und rege zu machen, und, überzeugt von dem gesunden Sinn und der Intelligenz der Bewohner unserer Gegend, bauen wir darauf, dass dieselben unsere redlichen Bemühungen durch fleißiges Abonnieren und Inserieren unterstützen werden.

Der „Beobachter“ erscheint in den beiden Städten Seesen und Bockenem zugleich; er hat seine Mitarbeiter in Stadt und Land; er verfolgt in reichsfreundlicher Weise den Gang der Politik, und bringt die neuesten Ereignisse von Nah und Fern, Vermischtes, Landwirtschaftliches, Gemeinnütziges, Lokales, Marktberichte, Amtliche Erlasse und Bekanntmachungen, Holz- und andere Auktionen, sowie Ankündigungen aller Art in übersichtlicher Zusammenstellung zur Kenntniß seines geschätzten Leserkreises. Daneben soll ein gediegenes Feuilleton stets zur Unterhaltung dienen: Jagd-, Fischerei-, Separations- und Interessentschaftsverhältnisse sollen erörtert werden, und dürften wir dann und wann wohl auch einen gesunden Humor die Zügel schießen lassen. Wir laden daher jedermann zum Abonnement freundlichst ein.“

In seiner Druckerei stellte Becker dann von 1885 bis 1888 auch die „Braunschweigische Landwehr-Zeitung“ sowie zeitweise den „Christlichen Schulboten“ für einen fremden Verlag her. Neben „Accidenzen“, also Gelegenheitsdrucksachen wie Prospekte und Broschüren, Flugblätter, Fahrpläne, Formulare und Familiendrucksachen, blieb aber die Herstellung des „Beobachter“ sein Haupterwerb. Zwischen sechs und neun Beschäftigte, Setzer und Drucker sowie dazugehörige Lehrlinge, fanden in der Becker’schen Druckerei damals Arbeit. Die zum Einsatz kommende „Johannisberger Maschine“ wurde bald schon mit Gas betrieben.

Seit 1878, also im Jahr nach Erscheinen unseres Exemplars, war der Verlag im Gebäude Nr. ass. 280 untergebracht; es ist jenes Gebäude, das ab 1889 als Bahnhofsgebäude am neuen Bahnhof der Braunschweigischen Landeseisenbahn diente. Becker war 1888 enteignet und entschädigt worden und musste das Haus verlassen. Den Anlass nutzte er, die Druckerei zu vergrößern und in „einen deshalb aufgeführten Neubau“ zu verlegen. Wo genau sich dieser in Seesen befand, ist bisher unbekannt. Nur wenige Jahre später gab Julius Becker seine Geschäfte in Seesen auf. 1917 starb er als Verlagsbuchhändler in Gera.

Der „Beobachter“ wurde ab 1892 dann von einem Karl Gosewisch in Redaktion, Druck und Verlag herausgegeben. Zu diesem ist nur wenig bekannt; auch ob er das Gebäude seines Vorgängers weitergenutzt hat, liegt im Dunkel. Bekannt ist, dass der Verlag mit dem neuerlichen Besitzerwechsel im Jahr 1908 in ein Wohnhaus zog, das der Zimmermeister Paetz Mitte der 1880er-Jahre errichtet hatte. Der neue Verleger hieß Heinrich Hofmann und erweiterte das neue Druckerei-Domizil an der Lautenthalerstraße durch zahlreiche Umbauten im Jahr 1909. Es ist der Ort, an dem auch heute noch Verlag und Redaktion der Seesener Tageszeitung ihren Sitz haben.str