Warum ist der mutmaßliche DRK-Betrug nicht eher aufgefallen?

Seesen/Münchehof. Die polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen Untreue gegen die Kiga-Leiterin Sabine Wendt aus Münchehof haben am Ende der vergangenen Woche konkrete Verfehlungen aufgedeckt und die Vorwürfe der Untreue gegen sie somit bestätigt. Die Schadenshöhe wird nach dem aktuellen Ermittlungsstand – gerechnet ab Mitte 2014 bis Anfang 2018 – auf 200.000 Euro bis 300.000 Euro geschätzt. „Schockiert, fassungslos und perplex” – damit hatte wirklich niemand gerechnet! 

Die genannten Summen sorgen weiter für Fassungslosigkeit in und um Seesen. Wie ist ein Betrug solchen Ausmaßes möglich gewesen? Mit dieser Frage wird sich wohl zu allererst das DRK in Münchehof als Arbeitsgeber jetzt beschäftigen müssen.

Zudem stellt sich die Frage, welche Verantwortung bei der Stadt Seesen und dem dortigen Rechnungsprüfungsamt liegen. Warum hat den mutmaßlichen Betrug über Jahre niemand früher bemerkt? Wurde es Sabine Wendt am Ende sogar zu leicht möglich gemacht? Welche Rolle spielt überhaupt ein Rechnungsprüfungsamt der Stadt Seesen im Zusammenhang mit einem Kindergarten in Trägerschaft des DRK genau? Und wer war zuständig wofür?

Alles Fragen, die es wohl nach und nach sorgfältig zu beantworten gilt. Einige Antworten hat die Stadt Seesen in einer Presseverlautbarung gegeben. Andere Antworten stehen noch aus. Am Anfang steht erst einmal ungläubiges Staunen.

Beschuldigte soll extra privates Konto für widerrechtliche Überweisungen eröffnet haben

Wie die Staatsanwaltschaft Braunschweig auf Anfrage des Seesener „Beobachter” am Montag von offizieller Seite bestätigte, wird der Beschuldigten vorgeworfen, Gelder in sechsstelliger Höhe von der KiTa veruntreut zu haben. Sie, Wendt, soll sogar ein privates Konto extra zu dem Zweck widerrechtlicher Überweisungen von dem Konto der KiTa eröffnet haben, erklärte Julia Meyer, Erste Staatsanwältin und Pressesprecherin seitens der Staatsanwaltschaft.
Geschädigt seien nach den bisherigen Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft nur der Träger des Kindergartens, mithin das Deutsche Rote Kreuz. Weitere Geschädigte sind der Staatsanwaltschaft nicht bekannt.

Die Schadenshöhe wird nach dem aktuellen Ermittlungsstand, wie eingangs erwähnt, auf 200.000 Euro bis 300.000 Euro geschätzt. Die polizeilichen Ermittlungen dazu dauern noch an, hieß es abschließend. Laut „Beobachter”-Informationen soll es fingierte Rechnungen geben, mit denen es dann möglich wurde, die Gelder zu transferieren.

Die Reaktionen sind allenthalben die gleichen. „Natürlich war ich im ersten Moment schockiert von den Entwicklungen“, gab beispielsweise der Vorsitzende des CDU-Kreisverbandes Ralph Bogisch nach Erhalt der Nachricht zu. „Die Unschuldsvermutung wurde nun doch widerlegt, die Vorwürfe haben sich leider bestätigt, wir sind alle sehr enttäuscht”, teilt Bogisch in einer Stellungnahme gegenüber dem „Beobachter” mit. „Warum konnte Frau Wendt dies nicht im Vorfeld nach Bekanntwerden der Unregelmäßigkeiten klarstellen?“, fragt sich Bogisch.

„Die Kollegen in Seesen haben zunächst Rücksprache mit der DRK-Vorsitzenden gehalten und sich die Informationen bestätigen lassen“, berichtet Bogisch. „Wir haben dann gemeinsam die weitere Vorgehensweise abgestimmt: Frau Wendt wurde aufgefordert, sämtliche Mandate und Funktionen in der CDU niederzulegen und aus der Partei auszutreten“, so Bogisch weiter. „Wir verurteilen derartige Handlungen“, wird Bogisch deutlich.

Seine Stellvertreterin aus Seesen, Christiane Raczek, hatte gemeinsam mit einem weiteren CDU-Vertreter noch am Sonnabend Sabine Wendt aufgesucht und sie mit den neuen Erkenntnissen konfrontiert. „Frau Wendt ist daraufhin von sämtlichen Ämtern zurückgetreten und hat auch ihre Mitgliedschaft in der Partei aufgegeben“, berichtet Bogisch.

Die entsprechenden Erklärungen lagen bereits am Sonnabend vor (der „Beoachter” hatte gestern darüber berichtet). „Der CDU-Kreisverband hat damit schnell reagiert und konsequent gehandelt“, so Bogisch weiter. „Das erwarte ich in vergleichbaren Fällen im Übrigen auch von anderen!“

Bogisch sorgt sich nun um den Vertrauensverlust. „Leider passieren solche Dinge, auch in der Politik, aber sie hängen von den einzelnen Personen ab. Wir können nur die Konsequenzen ziehen und uns von den Personen trennen, das haben wir getan“, so der CDU-Chef abschließend.

Patrick Kriener: „Warum wurde der Prüfbericht dem Rat noch immer nicht zur Verfügung gestellt?

Auch beim DRK-Orstverein selbst zeigte man sich fassungslos. Nadine Holzenleuchter als Vorsitzende erklärte gestern, dass sie keine Vorstellung habe, wie es zu so einem Betrug habe kommen können. Sie übt den Vorsitz des DRK ehrenamtlich aus, Kassenprüfungen hätten stattgefunden, warum der Betrug nicht auffiel, könne sie nicht sagen.

Seesens SPD-Chef Patrick Kriener fühlt sich derweil in seinem Handeln bestätigt, wie die „Goslarsche Zeitung” in ihrer gestrigen Ausgabe feststellte. „Rückblickend darf man wohl sagen: Alles richtig gemacht”, wird Kriener hier zitiert und nimmt damit Bezug auf die seinerzeitige Weitergabe eines Seesener Rechnungsprüfungsberichts zum DRK-Kindergarten an die Polizei Goslar mit der damaligen Bitte um Prüfung.

Gegenüber dem „Beobachter” erklärte er zudem auf Anfrage, dass sich natürlich die Frage stelle, warum der betreffende RPA-Bericht noch immer nicht dem Rat zur Verfügung gestellt worden ist. Am Montagabend sollte zudem eine Fraktionssitzung der SPD stattfinden, an der auch der Bürgermeister teilnehmen wollte, berichtete Kriener. Ansonsten überlasse die SPD in Seesen den Fall weiterhin der Judikative. „Unser Fokus liegt weiterhin auf einer guten Politik in Seesen und nicht bei Verfehlungen einzelner Personen”, so Patrick Kriener abschließend.

Als tragisch bezeichnete derweil SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Melone die Entwicklung um Sabine Wendt. „Sicher haben wir viele Fragen und sind erschrocken.” Der Bürgermeister hatte sie am Freitag über die Vorgänge, soweit sie ihm bekannt waren, informiert.

Sabine Wendt selbst war am Montag nicht mehr zu erreichen, sie hat ihr Handy offenbar komplett abgeschaltet. Zunächst hatte sie am Samstag gegenüber dem „Beobachter” noch zugesagt, sich äußern zu wollen. Das geschah bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe nicht.

Sonder-Ermittlungsgruppe gegründet

Die Stadtverwaltung Seesen hat zum Fall Wendt eine Pressemitteilung herausgegeben. Der „Beobachter” hatte um Beantwortung einiger Fragen gebeten. Hier der Wortlaut der Mitteilung der Stadtverwaltung:

Welcher Zusammenhang besteht zwischen der DRK-Kita und der Stadt Seesen?

Zwischen der Stadt Seesen und der DRK-Einrichtung gibt es einen sogenannten „Vertrag über Verlustausgleich“: Kosten, die für den Betrieb der Kindertagesstätte aufgebracht werden müssen und weder durch Zuschüsse noch durch den Ortsverein gedeckt werden können, werden von der Stadt Seesen übernommen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die betrieblichen Kosten der DRK-Kita in etwa so hoch sind wie die der städtischen Einrichtungen – genau das überprüft der städtische Rechnungsprüfer.

Was zuvor geschah: Vor wenigen Monaten sind dem Rechnungsprüfer kleinere Unstimmigkeiten aufgefallen, die bei so einer Prüfung durchaus üblich sind. Er hat daraufhin unverzüglich den Träger der Einrichtung informiert, zur Aufklärung aufgefordert, einen Vermerk in den Rechnungsprüfungsbericht geschrieben und – wie üblich – an den zuständigen Fachbereich zur weiteren Klärung weitergeleitet. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Staatsanwaltschaft bereits durch Dritte eingeschaltet und hat die Ermittlungen aufgenommen.

Warum ist dem Rechnungsprüfungsamt der Stadt nicht schon früher etwas aufgefallen?

Bei der Kindertagesstätte handelt es sich nicht um eine städtische, sondern um eine vereinsgeführte Einrichtung des Deutschen Roten Kreuzes. Das Rechnungsprüfungsamt der Stadt ist daher nicht für den Kassenbericht der Kindertagesstätte zuständig und hat auch nicht Einsicht auf sämtliche Konten der DRK-Kita. Der Rechnungsprüfer überprüft lediglich, ob die Betriebskosten ähnlich hoch sind wie die in städtischen Einrichtungen. Eine umfangreiche Überprüfung der Ausgaben und Einnahmen der Kindertagesstätte obliegt dem Deutschen Roten Kreuz und ist nicht Aufgabe des städtischen Rechnungsprüfungsamtes.

Wie reagiert die Stadt?

Die Stadtverwaltung ist über die Höhe der veruntreuten Gelder schockiert und hat aufgrund der Brisanz eine interne Sonder-Ermittlungs-Gruppe gegründet, die den zuständigen Fachbereich bei der Aufklärung unterstützt.uk